Montag, 5. April 2010

2006

(Quelle: http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,446922,00.html)

Selbstmord-Serie
Tausend indische Bauern gehen in den Tod

Aus Bangalore berichtet Thomas Schmitt

Alle acht Stunden bringt sich in einer indischen Agrar-Provinz ein Bauer um. Diese neue schockierende Statistik lenkt den Blick auf die Globalisierungverlierer in der Boom-Ökonomie: Indiens Landwirte leben in unfassbarem Elend - als letztes Mittel des Protests wählen sie den Selbstmord.

Bangalore - Es sah aus wie ein ganz normales Abendessen, das Ramesh Rathod zu sich nahm. Reis, ein wenig Dahl - sonst nichts. Plötzlich musste er sich übergeben. Wieder einmal hatte er den ganzen Tag nicht gegessen. Doch das war nicht der Grund für seine Übelkeit. Ramesh hatte seinem Essen Pestizide beigemischt. Absichtlich. Selbstmord beim Abendbrot.

Bauern-Waisen in Indien: Der Vater hat sich umgebracht - die Familie muss sich überschuldet durch das Leben kämpfen
Seine Freunde brachten ihn noch eilig ins nahe Krankenhaus. Aber es war zu spät.

Als Ramesh starb, besaß seine Frau Dharmi keine einzige Rupie. Noch heute, ein Jahr nach dem Selbstmord, ist sie fassungslos. "Alles, was ich weiß, ist: Einen Tag, bevor sich mein Mann umgebracht hat, ist ein Bankangestellter zu unserer Hütte gekommen." Nein, sagt sie, "ich habe keine Ahnung, wie viele Kredite Ramesh aufgenommen hat." Dharmi weiß nicht, wie sie die Kredite zurückzahlen soll, außerdem ihre zwei Kinder ernähren und die zwei Hektar Land bewirtschaften, die ihr Mann hinterlassen hat. Eigentlich versteht sie nichts von Landwirtschaft. Sie war vor allem für die Erziehung der Kinder zuständig. Dharmi musste ihre Verwandten um Hilfe bitten - damit sie nicht völlig allein dasteht.

Ramesh Rathods Selbstmord ist bei weitem kein Einzelfall. In der Provinz Vidarbha im Nordosten des Staates Maharasthra nimmt sich statistisch gesehen alle acht Stunden ein Landwirt das Leben. Das hat die Selbsthilfegruppe "Vidarbha Jan Andolan Samiti" errechnet; kürzlich meldete sie den 1000. Bauern-Selbstmord wegen Überschuldung seit Mitte 2005. Andere Schätzungen gehen sogar schon von 1100 Selbstmorden aus.

Der Baumwoll- und Orangenbauer Jitendra Tatte aus Lehegaon im Amaravati-Distrikt kennt das Elend der indischen Landwirte aus eigener Erfahrung. Er ist verbittert: "Es gibt keinen großen Unterschied zwischen jenen, die sich schon umgebracht haben, und jenen, die noch am Leben sind." Sein Kollege J. Madhavgir aus Akola drückt es so aus: "Zuhause haben wir kein Essen und keine Kleider zum Anziehen. Wir sind hungrig und rennen herum wie streunende Hunde." Er habe sein Land verkauft, sagt er, aber "ich finde keinen Job - weil keiner mehr Geld hat, einen Landarbeiter zu beschäftigen".

Hauptfeind ist die Regierung in Neu-Delhi

Ob es um den Anbau von Baumwolle, Sojabohnen oder Orangen geht - Maharashatras Landwirtschaft steht in allen Bereichen vor einem weiteren Jahr mit gigantischen Umsatzverlusten. Für die Bauern kommt alles zusammen.

Da sind die Probleme mit der Natur: Lehegaon war einst Indiens Hauptgebiet für Orangenanbau, doch seit fünf Jahren ist der Grundwasserspiegel dort so weit abgesunken, dass Orangenanbau kaum mehr möglich ist.

Dazu kommt die Politik der Zentralregierung in Neu-Delhi, die die Bauern als Hauptfeind ausgemacht haben. Sie hat auf Druck der WTO die Importzölle und die Subventionen heruntergefahren. Nun müssen die Bauern mit Anbietern aus der EU und den USA konkurrieren. Deren Agrarprodukte werden aber durch Zölle geschützt und in Milliardenhöhe subventioniert.

Das Ergebnis ist der beispiellose Verfall einer Branche, die in Indien ungemein viele Menschen ernährt. Baumwolle zum Beispiel wurde einst als weißes Gold gehandelt. Der schwarze, nährstoffreiche Boden in der sonst weithin armen, rückständigen Region Vidarbha war bestens zur Kultivierung geeignet. Noch 1970 erzielte ein Quintal (1000 Kilogramm) den Gegenwert von zwölf Gramm Gold. Doch durch die Liberalisierung des Landes Anfang der neunziger Jahre verlor Baumwolle schnell an Wert. Die Freigabe der Düngemittel- und Saatgutpreise trieb die Produktionskosten in die Höhe, parallel sanken die Einnahmen der Bauern immer weiter. Die Einfuhr billiger Baumwolle aus den USA, China und Pakistan drückte den Abnahmepreis unter die eigentlichen Produktionskosten.

Baumwolle weniger geschützt als Zucker oder Reis

"Im Interesse der Industrie hat Indien seine Zollgrenzen geöffnet - obwohl die Landwirtschaft dafür nicht vorbereitet war", sagt Vijay Jawandhia, Wirtschaftswissenschaftler und Sprecher von "Shetkari Sanghatana", einer Aktivistengruppe der Baumwollbauern. Er zielt damit einen kritischen Punkt der indischen Liberalisierung. Derzeit beträgt der Einfuhrzoll auf Baumwolle 15 Prozent - für Zucker dagegen zum Beispiel 60 Prozent, für Reis 80 Prozent. Dazu kommt, dass die Landwirtschaft jahrelang vernachlässigt wurde. Bauern wurden durch staatliche Abnahmegarantien zufriedengestellt. Diese Politik macht es den Bauern heute fast unmöglich, der Weltkonkurrenz zu begegnen.

Zur Geschichte ihres Niedergangs gehört auch, dass einige wenige Inder durch die Krise gewonnen haben. Vor allem die Zwischenhändler hätten vom Preisverfall profitiert, sagt Jawandhia. Vor zehn Jahren lag der Preis für Baumwolle auf dem Weltmarkt noch bei zwei Euro pro Kilogramm. "Jetzt ist er auf unter 40 Cent gesunken." Dennoch habe sich der Stoffpreis erhöht: "In den Shops hat man früher den Meter Stoff für 70 Cent verkauft. Heute muss man über 1,40 Euro dafür bezahlen." Das meiste streichen die Zwischenhändler ein.

Aus Verzweiflung zu privaten Geldverleihern

Viele Bauern dagegen müssen in der Krise ihr Heil in Krediten suchen - und verschulden sich bei privaten Geldverleihern mit Wucherzinsen, weil günstigere Kredite bei Banken für sie nicht zu haben sind. "Wie soll ich einen neuen Kredit aufnehmen?", fragt Dilip Choudhary, ein Baumwollbauer aus Washim. "Ich besitze zwei Hektar Anbaufläche und benötige 18.000 Rupien, um Saatgut zu kaufen. Die Bank hat mir gerade mal 5000 Rupien gegeben. Was soll ich denn damit anfangen?"

Es gibt Farmer mit 20 Hektar, denen man lediglich 12.000 Rupien bewilligt hat. Und das, obwohl die Regierung günstige Saatgutkredite unter dem üblichen Marktzins angeboten hat. Doch wurde das Geld erst freigegeben, als die Zeit der Aussaat fast vorbei war. So haben nur wenige von den zinsgünstigen Kleinkrediten der Genossenschaftsbanken profitiert. Den meisten Bauern blieb nichts anderes übrig, als bei privaten Geldverleihern immer weitere Kredite zu Wucherzinsen aufzunehmen - die teilweise bis zu 150 Prozent betragen.

Die meisten privaten Geldverleiher sind zugleich die größten Landbesitzer, Händler - oder beides zugleich. "Die Farmer müssen von diesen Geldverleihern loskommen", sagt B. L. Mungekar, Mitglied der Planungskommission und Landwirtschaftsexperte. Das Problem ist nur: Private Geldverleiher arbeiten viel unbürokratischer als die Banken - und geben auch noch Geld, wenn Kreditinstitute schon Nein sagen. Mungekar: "Wenn die Sache dann schiefgeht, wählen die Bauern den Selbstmord. Oder sie geraten in totale Abhängigkeit."

Ruin durch genverändertes Saatgut

Die Not der Bauern hat sich in den vergangenen Jahren noch dadurch verschlimmert, dass sie auf den Feldern immer mehr Pestizide gegen Schädlinge einsetzten - um der Konkurrenz mit niedrigen Kosten zu begegnen. Falscher Gebrauch der chemischen Hilfsmittel führte jedoch dazu, dass Schädlinge resistent wurden, die Böden ausgelaugt wurden und die Erträge sanken.

Dieses Problem sollte das genveränderte Baumwoll-Saatgut namens "Bacillus-thuringiensis-Cotton" lösen. Doch die Pflanzenkeime, die der Saatgut-Multi Mahayco-Monsanto Biotech vor vier Jahren eingeführt hat, sind dreimal so teuer wie konventionelle Samen. Heute gelten sie als Flop für die Bauern: "Alle Ankündigungen von Monsanto waren irreführend. Die aggressive Markteinführung vor drei Jahren hat Hunderte Bauern in den finanziellen Ruin getrieben", sagt R. V. Ramanjaneyulu vom Center for Sustainable Agriculture, einer Nicht-Regierungsorganisation. Monsanto dagegen verweist auf die "schwierigen klimatischen Bedingungen", die auch herkömmlichen Baumwollpflanzen geschadet hätten.

Was nun? Das Anbauprodukt wechseln? Die Bauern sind ratlos. Vor wenigen Jahren brachte der Anbau von Pfeffer noch 270 Rupien pro Kilogramm. Heute haben die Pflanzer Schwierigkeiten, mehr als 60 Rupien zu bekommen. Vanille, einst mit 4000 Rupien pro Kilo gehandelt, muss heute für 130 Rupien abgestoßen werden. Die Situation der Kaffeeanbauer im südindischen Kerala ist keineswegs besser: Sie erzielen heute einen Preis von 24 Rupien pro Kilo - vor ein paar Jahren bekamen sie durchschnittlich fünfmal so viel.

Armut auf dem Lande, Reichtum an der Börse

Die Selbstmordrate der indischen Bauern wird in den wenigsten Medien des Landes erwähnt. Als sich in Vidarbha der 1000. Bauer wegen Überschuldung das Leben nahm, schauten alle auf die Börse in Bombay - dort hatte der indische Aktienindex erstmals die 13.000-Punkte-Grenze übersprungen.

Dass beides nahezu zeitgleich geschah, charakterisiert auf bizarre Art, wie es um Indiens neue Wirtschaftswunderwelt bestellt ist: Die Wirtschaft wächst mit beachtlichen Raten, die Börse boomt - aber weniger als zwei Prozent aller Haushalte in dem südasiatischen Land investieren überhaupt Geld in Aktien. Jeder zweite Inder kann nicht richtig lesen und schreiben. Das Land feiert seine Industriekönige und Software-Ingenieure. Doch zwei Drittel aller Beschäftigten finden ihr Auskommen in der Landwirtschaft. Die Verlierer nimmt kaum jemand wahr.

Aktivist Jawandhia träumt von Europa: "Dort bekommen die Bauern zwei Euro am Tag, um ihre Kühe zu füttern. Hier rackern wir uns tagein, tagaus auf unseren Feldern ab und verdienen nicht mal einen Euro." Jawandhia spottet: "In unserem nächsten Leben sind wir lieber Kühe in Europa als Bauern in Indien."

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